Muslime
Tataren bevölkern seit circa sechs Jahrhunderten belarussisches Territorium, die meisten von ihnen kamen ursprünglich von der Krim und von den Steppen der Wolga. Die heutigen Nachkommen der mongolisch-tatarischen Horde, die ursprünglich auf Geheiß des Großfürsten Vytautas zum Militärdienst in das Großfürstentum Litauen kamen, haben sich sprachlich und kulturell fast vollständig assimiliert. Ihre Muttersprache haben sie praktisch verloren, Arabisch wird jedoch noch zur Religionsausübung genutzt. Zuweilen pflegen sie noch ihre eigenen Traditionen, außerdem haben sie ihre Konfession und ihre tatarischen Namen größtenteils bewahrt. Belarussische Muslime gehören fast ausschließlich der sunnitischen Glaubensrichtung an.
1994 fand der erste belarussische Kongreß der Muslime statt. Im Ergebnis wurde ein selbständiges Muftiat der Republik Belarus ausgerufen. Der erste Mufti war Ismail Alexandrowitsch, seit 2005 bekleidet Abu-Bekir Schabanowitsch dieses Amt. Nach den Angaben der Volkszählung von 2009 leben circa dreißigtausend Muslime in Belarus. Durch eine moderate muslimische Immigration (v.a. Aserbaidschander, Usbeken, Turkmenen, Kurden und Türken) mehrt sich deren Zahl. Heute sind dreißig muslimische Gemeinden in Belarus registriert. Fast ein Drittel der Gemeinden hat ihre eigenen Moscheen. Sie sind ein zentraler Treffpunkt der Religionsausübung und der Begegnung. Die meisten der Moscheen sind relativ neu (Ende des 20. Jahrhunderts). Die Moschee in Iwje (erbaut 1882), eines der Zentren des muslimischen Glaubens in Belarus, gilt als wichtiges Denkmal der belarussischen Holzbaukunst.
Ihre älteres Pendant, die Moschee in Nowogrudok (erbaut 1855), ein weiterer Ort mit bis in die Zeiten des Großfürstentums Litauen zurückliegenden Wurzeln, teilt eine für viele Gebetshäuser in Belarus gemeinsame traurige jüngere Geschichte. Bis 1953 durften Gläubige in der Moschee beten, danach enteigneten die Bolschewiki die Moschee und machten daraus sechs Wohnungen. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde die Moschee den Gläubigen zurückgegeben. Sie bauten die Moschee um und gaben ihr ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Alle Moscheen in Belarus wurden traditionell aus Holz gebaut, ihr Aussehen war seit jeher einfachen Charakters, ohne besonderen Schmuck. Der einfachen Architektur der Moscheen entsprach ihr innerer Raum. Üblicherweise bestand dieser aus einem Betsaal (jeweils in zwei Hälften geteilt: der vordere Teil für Männer, der hintere Teil für Frauen), einem Mihrab (eine Betnische für den Imam) und einem Minbar (eine Empore für Predigten des Imam). Minarette gab es auch, aber in Belarus hatten die sie eher dekorative bzw. symbolische Bedeutung. In der Regel waren sie Glockentürmen belarussischer orthodoxer und katholischer Kirchen sehr ähnlich.
Gerade wird eine neue Moschee in der belarussischen Hauptstadt Minsk gebaut, denn die alte Minsker Moschee, damals die einzige aus Stein erbaute Moschee in Belarus, wurde in der 1960-er Jahren des 20. Jahrhunderts abgebaut. Ungefähr zur selben Zeit wurde auch der Misar (tatarischer Friedhof) zerstört. Die Kleine und die Große tatarische Straße wurden umbenannt. Auf diese Weise wollte die sowjetische Regierung die ethnische Identiät der Tataren zerstören. Im Laufe der Zeit veränderte sich glücklicherweise die Situation.
Zu Zeiten der Perestroika (1986 durch Michail Gorbatschow eingeleiteter Prozess zur Modernisierung des sowjetischen Systems) wurden zahlreiche Gesetze zu Religionsfreiheit und Minderheitenrechten verabschiedet, die die nötige Rechtsgrundlage für die kulturelle Wiedergeburt der belarussischen Tataren schufen. 1989 enstanden die ersten tatarischen Kulturorganisationen in Minsk und Grodno, im Sommer 1991 schlossen sie sich im Verein der Tataren-Muslime “Al-Kitab” zusammen. Im Winter 1994 wurde eine weitere wichtige Institution gegründet, der Muslimische Religionsverein in der Republik Belarus. Nach ihrer Gründung begannen diese Organisationen die Tätigkeit der 26 tatarisch-muslimischen Gemeinden in Belarus zu koordinieren.
Eine der größten muslimischen Gemeinden in Belarus befindet sich in der schon erwähnten Kleinstadt Iwje. Die Stadt ist in dem Sinn einzigartig, als dass dort seit Jahrhunderten vier Konfessionen (Orthodoxe, Katholiken, Juden und Muslime) in Eintracht, Frieden und gegenseitigem Respekt miteinander leben.
Unter der Woche wird bei den Muslimen zu Hause gebetet, in der Moschee von Iwje finden sich die Gläubigen jeweils Freitags zum gemeinsamen Gottesdienst (Salāt) zusammen. Die Moschee in Iwje ist ein offener Ort und jeder Gast ist herzlich willkommen. Um die Gedanken ganz auf Gott auszurichten ist auch diese Moschee in zwei Räume aufgeteilt, der vordere für die Männer, der hintere für die Frauen. Das Freitagsgebet, eine der fünf Säulen des Islam, ist auch in Iwje eine Gelegenheit wo viele Gläubige in der Moschee zusammenkommen. Am Abend vor dem Gebet ist der Verzehr von Alkohol verboten. Der Gottesdienst wird auf Arabisch abgehalten, die russische Übersetzung des Koran darf im Gottesdienst nicht verwendet werden. Um den Koran zu lesen zu können, lernen viele Tataren heutzutage wieder Arabisch.
Gleich hinter der Moschee von Iwje sind viele Treibhäuser mit Tomaten zu sehen. Der Tomatenanbau gilt heute in Iwje als typisch tatarische Tätigkeit. In solchen Kleinstädten wie Iwje gibt es wenig Arbeitsplätze und die Gehälter sind niedrig, deswegen sind die Menschen dort gezwungen erfinderisch zu sein.
Fast jede tatarische Familie hat in ihrem Garten aus Holz gebaute Gewächshäuser stehen, in denen die rote Frucht angebaut wird. Die Tomaten aus Iwje sind als besonders schmackhaft bekannt, und so kommen Händler selbst aus Russland und dem Kaukasus nach Iwje um mit den tatarischen Produzenten um die besten Preise zu feilschen.
Gastfreundschaft wird hier allerdings sehr groß geschrieben. Wenn man im Murawschizna (tatarisches Viertel) Hilfe braucht, kann man zu jedem Haus gehen und darum bitten. Die Chancen stehen zudem nicht schlecht, dass man noch auf ein Schwätzchen bei Tee und Gebäck hereingebeten wird.
Über die Jahrhunderte haben sich tatarische Riten und Bräuche verändert, viele wurden während der Sowjetzeit assimiliert. So unterscheidet sich eine tatarische Hochzeit beispielsweise kaum von einer belarussischen. Die formelle Zeremonie ist allerdings nicht die Trauung, sondern der Nikāḥ (arab. Vertrag). Dieser Ritus findet nach wie vor in der Moschee statt. Das Imam belehrt das Hochzeitspaar, segnet sie und unterschreibt ein Heiratszeugnis, das aber keine Rechtgültigkeit hat. Interethnische Ehen mit Belarussen, Polen etc. sind oft anzutreffen, allerdings führten sie bis jetzt nicht zu einer vollständigen Assimilation.
Tatarische Kinder in Iwje gehen in staatliche Kindergärten und Schulen. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es noch eine muslimische Schule, wo man Kindern die Grundlagen des Korans und des Arabischen beibrachte. Heute praktizieren die Tataren Arabisch meist aussschliesslich in der Moschee. Der Imam spielt hierbei eine wichtige Rolle. Die Tätigkeit des Imams ist ehrenamtlich.
In Iwje wurde der jetzige Imam, nachdem der vorherige Imam aus Altergründen sein Amt niederlegte, direkt von der Gemeinde gewählt. Er war die Person, dem die Gemeinde das größte Vertrauen entgegenbrachte.
Große Feste wie das islamische Opferfest und das Fest des Fastenbrechen werden in der Gemeinde gemeinsam gefeiert. Traditionell wird unter den Gemeindemitgliedern Fleisch verteilt und die ältesten und angesehendsten Gemeindemitglieder werden von der Gemeinde beschenkt. Für gemeinsame Feiern werden traditionelle tatarische Gerichte zubereitet: tatarisches Pilaw, Urama (Fleischkuchen), Tschak-tschak (Nüsse mit Honig) und viele andere.
Entdecken Sie die Vielfalt der Religionen in Belarus auf unserer Rundreise durch Belarus und statten Sie Iwje und seinen Bewohnern einen Besuch ab.