Juden
Die ersten Juden siedelten sich im 14. Jahrhundert auf dem Territorium des modernen Weißrusslands an, in der Epoche des Großfürstentums Litauen. Damals nannte man die aus dem Fürstentum kommenden Juden „Litwaki“. Sie unterschieden sich von anderen jüdischen ethnografischen Gruppen durch ihren nord-östlichen jiddischen Dialekt sowie eigene Sitten und Gebräuche.
Die erste schriftliche Quelle, die von der Anwesenheit von Juden auf belarussischem Territorium zeugt, war eine Urkunde des Fürsten Vytautas des Großen (datiert 1383). In dieser Urkunde wurden Juden als eigene Volksgruppe erwähnt. Laut den Gesetzen bildeten Juden eine eigene Klasse freier Bewohner im Großfürstentum Litauen und waren dem direkten Schutz des Großfürsten und der lokalen Macht unterstellt.
Im 14. und 15. Jahrhundert kamen viele Juden aus deutschen Städten nach Polen und in das Großfürstentum Litauen. Ganze Gemeinden zog es in die Fremde. Sie brachten ihre Traditionen und Bräuche, Ihre Gewohnheiten zu Handelstätigkeiten, und Ihr Bildungswesen mit. Ende des 15. Jahrhunderts zählte man in Polen und im Großfürstentum Litauen schon mehr als 20.000 Juden.
Im Jahr 1495 gab es im Großfürstentum Litauen fünf Städte mit ansässiger jüdischer Bevölkerung: Brest, Grodno, Wolodymyr-Wolynskyj und Luzk (in der heutigen Ukraine), und Trakai (im heutigen Litauen). In Orten wie Drogitschin, Kamenetz, Kritschew, Minsk, und Nowogrudok lebten Sie nur zeitweilig. An der Wende zum 16. Jahrhundert keimten viele jüdische Siedlungen auf.
Nachdem Alexander der Jagiellone (Großfürst von Litauen und König von Polen, 1461-1506) jüdischen Geldgebern seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, verabschiedete er einen Erlaß zur Ausweisung aller sich auf dem Territorium des Großfürstentums befindlichen Juden. Im April 1495 wurden daraufhin alle Juden aus dem Großfürstentum Litauen ins Exil geschickt. Gemeinden aus Brest und Grodno siedelten nach Polen und teilweise in litauische Teilfürstentümer über. Im April 1503 erlaubte der Großfürst Alexander Juden in das Großfürstentum zurückzukehren. Er gab ihnen zudem ihr veräußertes Besitztum zurück.
Der Großfürst und König Sigismund der Alte (1506-1548) galt als tätiger Schützer der Juden. Mit zahlreichen Gesetzen stärkte er die Rechtslage der Juden. Dies betraf vor allem die Besteuerung und die Erlaubnis zu Handel und Handwerk. Am Anfang des 16. Jahrhunderts waren die blühensten jüdischen Gemeinden die in Brest, Grodno und Pinsk.
1551 erhielten belarussische Juden das Recht, ihre Rabbiner selbst zu wählen. Vornehme Juden waren damals polnischen und litauischen Gutsherren gleichgestellt. Das litauische Statut von 1529 verbot den Juden allerdings Sklaven zu halten. Ein weiteres Statut von 1566 regelte zudem den jüdischen Kleidungsstil, es verbot teure Kleidung und goldene Schmucksachen. Juden waren außerdem verpflichtet gelbe Hüte bzw. Kappen tragen, damit sie von Orthodoxen zu unterscheiden waren. Am Ende des 16. Jahrhundert gewährte Stephan Bathory (ab 1576 König von Polen und Großfürst von Litauen) Juden das Recht, in Städten Handel zu treiben, wenig später räumte er Ihnen das Recht ein Läden zu besitzen.
Das oberste Selbstverwaltungsorgan der Juden in Osteuropa war der Wa’ad Arba’ Aratzot (hebräisch für Ausschuss der vier Länder), der seit Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1764 existierte. Der Wa’ad Arba’ Aratzot bestand aus Rabbinern und Vertretern der regionalen Kehillah (jüdische Gemeinde).
1654 begann der Krieg zwischen Russland und Polen, der den belarussischen Juden großes Unglück brachte. Sie wurden beraubt, ermordet und wieder aus den belarussischen Städten, die von Russen erobert worden waren, vertrieben. Nach dem Chmelnyzkyj-Aufstand 1648 in der Ukraine flohen zahlreiche ukrainische Juden nach Litauen. Der Aufstand weitete sich jedoch auch bis nach Litauen aus. Mit Feuer und Schwert vernichteten die Kosaken die jüdischen Gemeinden in Gomel und Pinsk. So ging die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert für die Juden der Region als dunkle Zeit vorüber, in der sie beständig durch Progrome der Kosaken und von russischen Truppen bedroht wurden. Diesen Ereignissen fielen circa 86.000 Juden zum Opfer.
Nach den drei Teilungen Polens (1772, 1793, und 1795) wurde das Territorium des heutigen Weißrussland dem Russischen Imperium angegliedert. 1775 wurde Juden erneut ein besonderer Status eingeräumt, später durften sie sich in der Kaufmannschaft anmelden, und in den Stadtverwaltungen mitarbeiten.
Zwischen Ende des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Siedlungsgebiet (und damit das Wohn- und Arbeitsrecht) der Juden auf einen ursprünglichen Erlass von Katherina der Zweiten (1791) hin auf das sogenannte Ansiedlungsrayon begrenzt. Das Ansiedlungsrayon bezeichnete das Gebiet im Westen des russischen Zarenreiches, vormals Polen-Litauen zugehörig. Bald gelangten alle belarussischen Juden in diesen Ansiedlungsrayon, den sie laut Erlass nicht verlassen durften. Bis zum Jahr 1825 mussten alle Juden zudem in Städte umsiedeln, auf dem Land durften sie nicht mehr länger leben.
Nach der Volkszählung von 1897 lebten auf dem Territorium von Belarus über 900.000 Juden, über 21% der Bevölkerung des Ansiedlungsrayons. Zahlenmäßig waren sie größer als die große polnische Diaspora.
Auf belarussischem Territorium gab es einige bedeutende Jeschiwas (jüdische Hochschule, vornehmlich zum Tora- und Talmud-Studium) – in Wolozhin, Mir, Slonim, Sluzk. Hierher zog es junge Juden aus zahlreichen Ländern. Der große Anteil an jüdischer Bevölkerung lässt sich auch an der Anzahl der Synagogen ablesen: im Jahr 1917 gab es in Minsk 83 Synagogen, in Mogiljow 50, in Bobruisk 42, in Witebsk 30, und in Gomel 26.
Die Februarrevolution von 1917 liquidierte den Ansiedlungsrayon, nationale und konfessionelle Beschränkungen wurden abgeschafft. Alle jüdischen Parteien wurden sofort legalisiert und begannen am politischen Leben des Landes teilzunehmen.
Der erste Weltkrieg und der Bürgerkrieg führten zu beschleunigter Urbanisierung des belarussischen Judentums, trug aber auch massiv zu seiner Massenauswanderung bei. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die wirtschaftlichen Grundlagen der Juden in Folge der neuen ökonomischen Politik zerstört. Tausende Handwerker und Kaufmänner verloren nicht nur ihren Verdienst, sondern auch Ihre Zivilrechte, wurden Entrechtete.
Nach dem sowjetischen Machtantritt (1920) wurden jüdische Gemeinden aufgelöst, jüdische Parteien liquidiert, Neuhebräisch und das Studium in den Jeschiwas verboten. Viele Synagogen wurden geschlossen. Die Sowjetmacht führte auch für Juden das sowjetische Bildungs-, Aufklärungs- und Kultursystem ein, zwar auf Jiddisch aber ohne nationale Traditionen und nationale Kultur. Alle jüdischen Periodika (außer der Zeitung „Der Wecker“) wurden verboten. In dieser Zeit war Jiddisch neben Belarussisch, Russisch und Polnisch noch Staatssprache.
Trotz allem war die zweite Hälfte der 1920er und die erste Hälfte der 1930er eine Zeit der relativen Blüte jüdischer Kultur in Belarus. Die belarussisch-jüdische Kultur brachte solch berühmte Maler wie Mark Chagall, Chaim Soutine, Jehuda Pen, Solomon Judowin, und Meyer Axelrod hervor.
Zum Ende der 1930er Jahre lebten circa 400.000 Juden in Belarus. Nach der Angliederung des westlichen Belarus zur BSSR (1939) wuchs die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf circa eine Million. Dann brach der zweite Weltkrieg aus, der für das Judentum zu einer furchtbaren Katastrophe wurde. In Belarus kamen von 1941-45 über 950.000 Juden um, darunter 85.000 die aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, Österreich und Ungarn, nach Belarus deportiert wurden. Auf belarussischem Territorium wurden über 300 Ghettos errichtet. Die meisten Häftlingen des Minsker und Polozker Ghettos sowie viele westeuropäische Juden wurden im Konzentrationslager Maly Trostinez in der Nähe von Minsk vernichtet.
Das größte Ghetto in Belarus lag in Minsk. Heute steht auf dem ehemaligen Areal des Ghettos ein beeindruckendes Denkmal zum Andenken an die Opfer. Das Denkmal „Grube“ ist 2000 von Leonid Lewin geschafft worden. Die Bronzeskulpturkomposition stellt Menschen dar, die in der Grube ihrem Tod entgegengehen.
Unter den schrecklichen Bedingungen der Ghettos formierten sich trotz der Repressionen antifaschistische Bewegungen. Einige Untergrundgruppen operierten in den Ghettos von Minsk, Baranowitschi, Bobruisk, Grodno und anderen belarussischen Städten. In manchen Ghettos brachen Aufstände am Tag vor Massenerschießungen aus. Die meisten befreiten Häftlinge schlossen sich Partisanengruppen an. Auf dem Territorium der BSSR kämpften circa zehn jüdische Partisanenabteilungen. Insgesamt rangen 12.000 Juden in Partisanenabteilungen mit dem Feind.
Auch nach dem Krieg blieb die Lage schwierig. Während der Nachkriegskampagne „Kämpf gegen Kosmopoliten“ wurden alle jüdischen Schulen und Kulturorganisationen der Republik geschlossen. Diese Zeit war erneut von großer Judenfeindlichkeit geprägt.
In den folgenden Jahren verringerte sich die ohnehin schon geringe Zahl der jüdischen Bevölkerung allmählich. Der Höhepunkt der Auswanderung nach Israel fiel auf die Jahre 1989 – 1991, während derer circa 62.000 Menschen emigrierten.
Die meisten Juden leben heute in der belarussischen Hauptstadt Minsk, Gemeinden gibt es allerdings auch in anderen Großstädten. In Belarus gibts es mittlerweile wieder elf aktive Synagogen: je zwei in Minsk, Witebsk und Mogiljow sowie je eine in Pinsk, Brest, Grodno, Bobruisk und Gomel, wo insgesamt 19 Rabbiner arbeiten.
Die offizielle jüdische Gemeinde in der Republik Belarus berichtet über 55.000 Juden im Land, die Hälfte von ihnen lebt in Minsk.
1992 wurden diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen, die im Laufe der Zeit weiter gestärkt wurden. Seit November 2015 können Bürger beider Staaten einander ohne Visum besuchen.
Gehen Sie mit uns auf Reisen und entdecken Sie die Spuren jüdischer Geschichte in Belarus.