Die belorussische Sprache
Einige Sprachen vermögen es Ländergrenzen zu überwinden, zur Brücke zu werden, die die Verständigung zwischen Menschen verschiedener Kulturen erleichtert. Andere Sprachen schlummern hingegen in alten Büchern und werden nur in abgelegenen Gegenden gesprochen, wo die Welle der Globalisierung noch nicht angekommen ist. Dieses Schicksal ereilen in erster Linie Sprachen, die von sehr wenigen Menschen gesprochen werden. Glücklicherweise gibt es Beispiele dafür, wie die eigene Sprache auch in kleinen Ländern gepflegt werden kann.
Was ist das Schicksal der belarussischen Sprache? Viele Menschen werden sich bei dieser Lektüre wahrscheinlich eine Frage stellen: warum gibt es eigentlich eine solche Sprache?
Die belarussische Sprache ist so alt wie ihre slawischen Schwestersprachen wie das Russische, Ukrainische und Polnische u.a. Die Grundlage für die Entstehung und Entwicklung der slawischen Sprachen waren die Dialekte einzelner slawischer Stämme, die vor zwei Jahrtausenden begannen, sich auf den riesigen Gebieten Mittel- und Osteuropas anzusiedeln. Die belarussische Sprache basiert auf Dialekten dreier slawischer Stämme, und zwar jener der Dregowitschen, der Kriwitschen und der Radimitschen. Im Prinzip spiegelt die heutige Gruppierung der belarussischen Dialekte tatsächlich die frühere Ansiedlung der genannten Stämme auf belarussischem Territorium wieder. Die ältesten Manuskripte stammen aus dem 10.-11. Jahrhundert. Heute wird offiziell das kyrillische Alphabet verwendet, das seit dem 14. Jahrhundert existiert. Im 16. Jahrhundert erschien das lateinische Alphabet.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierten das kyrillische und das lateinische Alphabet nebeneinander. Eine Zeit lang druckte die Zeitung „Nascha Niwa“ Texte auf zwei grafischen Systemen, damit alle Belarussen verstehen konnten, was geschrieben wurde, denn die Katholiken gewöhnten sich an das lateinische Alphabet, und die Orthodoxie verstand nur das kyrillische Alphabet. Heutzutage wird das lateinische Alphabet vor allem in der Toponymie, bei Namen von geographischen Orten, verwendet. Beispielsweise sind die Namen der U-Bahn-Stationen in Minsk in kyrillischer und belarussischer Sprache geschrieben, nicht in Englisch.
Seit dem 14. Jahrhundert begannen die Tataren, die während ihrer Raubzüge gefangen genommen wurden, sich in Belarus niederzulassen. Nach und nach assimilierten sie sich. Mit der Zeit entstanden Schriften, die in weißrussisch-arabischer Schrift verfasst waren. Damit gab es drei Alphabete (grafische Systeme) in der belarussischen Sprache.
Vom 14. Jahrhundert bis zum Jahr 1696 war das Weißrussische die offizielle Sprache des Großfürstentums Litauen. Nach der Vereinigung des Fürstentums und des Königreichs Polen im Jahr 1569 wurde die Bevölkerung des Fürstentums nach und nach polonisiert. Dies endete mit der vollständigen Verdrängung der belarussischen Sprache aus dem offiziellen Gebrauch. Ab 1696 wurden alle Schriften der Staatenunion Polen-Litauen ins Polnische übersetzt. Seitdem wurde die belarussische Sprache vor allem im Alltag verwendet.
In der belarussischen Sprache gibt es zwei unterschiedliche Varianten. Die 1918 vom Sprachwissenschaftler und Politaktivisten Bronislaw Taraschkewitsch gegründete Rechtschreibung wird heute „klassisch“ oder „Taraschkewitsa“ genannt. 1933 sowie in den späten 1950er Jahren wurde die Rechtschreibung im Rahmen der Russifizierungsreformen verändert. Die reformierte Rechtschreibung trägt einen informellen Namen und wird „Narcomovka“ genannt. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die neue Rechtschreibung im Jahr 2008 erhielt diese endlich offiziellen Status.
Infolge der langen Koexistenz der belarussischen und russischen Sprache entstanden die so genannten Trasyanka. Im wörtlichen Sinne bedeutet dieses Wort „Heu von schlechter Qualität“, das aus einer Kombination von trockenem und frisch geschnittenem Gras besteht. In der ukrainischen Sprache gibt es auch ein ähnliches Phänomen, das „Surschik“ genannt wird. Es wird vermutet, dass dieses sprachliche Phänomen eine Folge der Kommunikation der überwiegend belarussischsprachigen Landbevölkerung mit der russischsprachigen Stadtbevölkerung war. Einigen Forschern zufolge trugen die stalinistischen Repressionen zur Ausbreitung der Trasjanka bei, da der Gebrauch der Muttersprache selbst ein Grund für Denunziationen war und so Mischformen entstanden.
Belarus war eine der am stärksten russifizierten Sowjetrepubliken. Das Sprachengesetz, das im Januar 1990 vom Obersten Sowjet der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik verabschiedet wurde, sicherte der belarussischen Sprache den Status einer einheitlichen Staatssprache. Russisch wurde als Sprache der interethnischen Kommunikation anerkannt. Als alleinige offizielle Staatsprache existierte die belarussische Sprache bis zum Referendum im Mai 1995, dass auf Initiative des Präsidenten Alexander Lukaschenka abgehalten wurde und den Status des Russischen stärkte. Infolgedessen wurde in vielen Schulen Russisch als Unterrichtssprache eingeführt. Heute nimmt die Zahl der belarussischsprachigen Schulkinder rapide ab, in regionalen Zentren und Großstädten werden nur noch wenige Schüler in ihrer Muttersprache unterrichtet. Es gibt keine einzige Hochschuleinrichtung im Land, an der eine Ausbildung in belarussischer Sprache angeboten wird. Dies ist einer der Hauptfaktoren, die Eltern davon abhalten, ihre Kinder auf belarussische Schulen zu schicken.
Nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung verwendet die belarussische Sprache in der alltäglichen Kommunikation. Häufiger wird belarussisch in staatlichen Fernseh- und Radiokanälen verwendet. Die kreative und junge Intelligenz von Belarus verwendet in den letzten Jahren immer mehr die belarussische Sprache.
Zum Schluss noch einige Fakten über die belarussische Sprache:

Das belarussische Alphabet stimmt fast vollständig mit dem russischen Alphabet überein, aber es gibt auch Eigenheiten.
- Der Buchstabe Ў, ў (das kurze U), der in der russischen Sprache fehlt. In Polotsk wurde während des vergangenes „Tages der belarussischen Schriftsprache“ ein Denkmal für den Buchstaben „Ў“ errichtet. Dieses Denkmal ist absolut einzigartig und ziemlich ungewöhnlich. In der Tat ist es ein Denkmal für die kulturelle Einzigartigkeit der gesamten belarussischen Nation.
- Das Apostroph ‚, das in der russischen Sprache fehlt. Im Russischen entspricht dies dem Buchstaben ъ (hartes Zeichen).
- Der Buchstabe i, der im Gegensatz zum russischen „и“ wie im lateinischen Alphabet geschrieben wird.
Natürlich sind sich die belarussische und die russische Sprache sehr ähnlich, so dass Russen und Belarussen einander gut verstehen. Aber es gibt Wörter, die in der belarussischen Sprache ganz anders klingen und eher dem Polnischen ähneln. Um diese Worte zu verstehen, muss man, wie bei jeder Fremdsprache, die Übersetzung kennen.
Hier einige Beispiele: Fahrrad: rower (bel.), welosiped (russ.); Rübe: burak (bel.), swjokla (russ.); Blume: kwetka (bel.), tswetok (Russ.); Zwiebeln: tsybulja (bel.), luk (russ.).