Polesien und Prypjatsümpfe
Polesien beeindruckt Reisende seit jeher durch seine einzigartige und urwüchsige Natur. Polesien (belarussisch: Palesse, russisch: Polesje) liegt in der polesischen Tiefebene und dehnt sich auf den Territorien von Belarus, Polen, Russland und der Ukraine aus. Die Gesamtfläche des Gebiets beträgt circa 130.000 km². Der größte Teil von Polesien liegt im Süden Weißrusslands und im Norden der Ukraine.
Die Fläche des belarussischen Polesien beträgt 61.000 km², etwas weniger als ein Drittel des gesamten belarussischen Territoriums. Die Ausdehnung der Region von West nach Ost beträgt etwa 500 km, von Nord nach Süd etwa 200 km. Zu den größten Städten der Region gehören Brest, Pinsk, Turau und Mozyr.
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es keine einheitliche Meinung bezüglich der Entstehung der Namensgebung. Die meisten halten an der Auffassung fest, dass die Wurzel „les“ (belarussisch / russisch für das Wort Wald) ausschlaggebend ist. Das heißt, Polesien bezeichnet ein Gebiet, das an Wälder angrenzt. Eine andere Herleitung geht von der baltischen Wurzel „pol-“ bzw. „pal-“ aus, das eine Sumpflandschaft bezeichnet.
Zum ersten Mal wurde das Toponym Polesien im Jahr 1247 in der Galizisch-Wolhynischen Chronik erwähnt. Die erste bekannte Karte dieser Region ist die sogenannte „Danziger Landkarte“ aus dem Jahr 1560. Der Ortsname Polesien war mehrmals in Werken polnischer Historiker zu finden. Die Grenzen der Region wurden in verschiedenen Quellen aber jeweils noch unterschiedlich gezogen. Das gemeinsame Band war jedoch stets das Flußgebiet des Prypjat.
Das verbindende Element Prypjat und seine zahlreichen Nebenflüsse wie die Pina, Jasselda, Braginka, der Zna, Slutsch und Ptitsch, durchziehen die Region und ihre Städte. Im Osten Polesiens fließt der mächtige Dnepr und seine Nebenflüsse Beresina und Sosch, im Westen der Bug mit seinem Nebenfluss Muchawetz. Zusammen formen sie ein weitverzweigtes Wassersystem, das während der Hochwasser im Frühjahr große Überschwemmungsgebiete bildet.
In den Niederungen zwischen 100m und 130m Meereshöhe, Hinterlassenschaften von Gletschern der letzten Eiszeit, treten im flachen Relief große Sumpfmassive und ausgedehnte Moore auf.
In Europa ist dieses Gebiet einzigartig. Hier kreuzen sich einige der wichtigsten kontinentalen Zugvögelrouten. Vor allem Wasservögel wie die Uferschnepfe (Limosa limosa), der Rotschenkel (Tringa totanus), der Kiebitz (Vanellus vanellus), und der Terekwasserläufer (Xenus cinereus) machen hier Rast. Polesien bietet vielen Vögeln Lebensraum, die in Europa vom Aussterben bedroht, darunter u.a. der Wachtelkönig (Crex crex), die Doppelschnepfe (Gallinago media), und der Schelladler (Aquila clanga).
Die Flussniederungen des Prypjat bieten Lebensräume für seltene Tiere wie die europäische Sumpfschildkröte, den Otter und den europäischen Nerz. Für Ornithologen, Biologen und Ökologen ist diese Region deswegen von besonderem Interesse.
Unter den vielen polesischen Sümpfen zeichnet sich der Sumpf Sporowskoe aus, einer der größten natürlichen mesotrophen Niedermoore in Europa. Der größte Teil ist in seinen natürlichen Zustand erhalten, nur ein kleiner Teil der Fläche wurde durch ein Kanalsystem trockengelegt. Dieser Sumpf zeichnet sich vor allem durch seinen Artenreichtum und eine Fülle an dort gedeihenden Heilpflanzen aus. Im östlichen Teil wachsen seltene Orchideenarten, die auf der Roten Liste stehen. Im Wasser leben Wildtiere wie Biber (Castor fiber), Otter (Lutrinae) und die seltene Bisamratte (Ondatra zibethicus). Es nisten dort Wiesenweihen (Circus pygargus), Rohrweihen (Circus aeruginosus) und unterschiedlichste Arten von Wasser- und Sumpfvögeln. Das Moor Sporowskoe machte jedoch ein kleiner Vogel bekannt, und zwar der Seggenrohrsänger (Acrocephalus paludicola), von dem 9% der Weltpopulation in Sporowskoe lebt.
Das Territorium des belarussischen Polesien ist zu 38% bewaldet. Laub- und Nadelwälder sind auf den Gebieten der Wasserscheiden verbreitet. Am linken Ufer des Prypjats sind vor allem Fichtenwälder angesiedelt. Auf den flachen Territorien stehen vermehrt Eichenwälder, auf den Niedermooren – Schwarzerlen- und Birkenwälder. Im letzten Jahrhundert wurden viele Hektar der polesischen Wälder durch Holzeinschlag und Brände vernichtet. Im 1996 gegründeten Nationalpark Prypjatskij werden die Naturlandschaften des belarussischen Polesien nun streng geschützt.
Das größte Problem für das lokale Ökosystem ist wie vielerorts der Mensch. Den größten Einfluss hatte hierbei die Trockenlegung vieler Sumpfgebiete. In Belarus begann die Trockenlegung der Sümpfe bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Zuerst im kleinen Stil, kultivierten einzelne Bauern kleine Parzellen, um sie für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Die Massentrockenlegung begann erst nach dem zweiten Weltkrieg, in den 1950er Jahren. Den Höhepunkt erreichten diese Maßnahmen in den 1960er Jahren. Die urbaren Gebiete wurden für den Anbau von Getreidekulturen sowie für Hanf und Tabak genutzt und angepasst.
Trotz dessen hat sich Belarus im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viele seiner Sümpfe und Moore bis heute bewahrt. Die gesamte Fläche der belarussischen Sümpfe beträgt 863.000 Hektar. Die ist dies allerdings weniger als ein Drittel als noch in den 1960er Jahren.
Bis heute wird kontrovers über die Trockenlegung der Sümpfe diskutiert. Einerseits war es von Vorteil, Neuland für die Landwirtschaft zu gewinnen. Allerdings führte dies unter anderem auch dazu, dass chemische Düngemittel von den Feldern in Seen und Flüsse gelangten und dort Schaden anrichteten.
Die Trockenlegung der Sümpfe brachte der Region allerdings nicht den größten Schaden. Im Jahr 1986 wurde ein großer Teil des Territoriums von Polesien durch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl radioaktiv kontaminiert, welche in unmittelbarer Nähe stattfand.
Heute existiert hier das “ Staatliche strahlungsökologische Naturschutzgebiet Polesien“, das aus über 216.000 Hektar kontaminierter Fläche besteht, die für die Zivilbevölkerung nicht zugänglich ist. Dort werden vor allem wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, sowie Maßnahmen, die drauf abzielen, dass sich die Verseuchung nicht auf weitere Territorien verbreitet.